Hinter den Spiegeln

Gedanken zum Werk von Johann Büsen

Die Geschichte ist bekannt. Ein kleines Mädchen bemerkt ein weißes Kaninchen, das äußerst geschäftig an ihr vorbei hastet und dabei sorgenvoll auf seine Uhr blickt: „O weh, o weh! Ich werde zu spät kommen!“. Ohne weiter nachzudenken folgt das Mädchen dem merkwürdigen Gesellen, springt ihm hinterher, in ein Loch, gut verborgen hinter einer Hecke, wo sie schließlich in eine fantastische Welt hineinfällt.

Mit einer unbekümmerten Neugierde auf das Unbekannte beginnt Lewis Carrolls Kinderbuchklassiker von 1865: Alice im Wunderland. Alles erscheint hier eigentümlich vertraut und dann doch völlig anders. Die Fortsetzung von 1871 folgt gleich zu Beginn einem ganz ähnlichen Motiv. Die Titelheldin entdeckt auch hier im Vertrauten das Fantastische. Denn Hinter den Spiegeln, so der Titel des Buches, tut sich plötzlich Überraschendes auf. Die Wirklichkeit, wie wir sie zu kennen glauben, ist an diesem Ort voll von unerhörten Begebenheiten, voll von allerlei merkwürdigen Gestalten. Man denke nur an Humpty Dumpty, an die unheimliche Grinsekatze oder
die Herzkönigin, die liebend gern jemanden köpfen möchte. Traum und Wirklichkeit, Schein und Sein, sind hier nicht immer klar voneinander unterscheidbar. Erzählerischer Erfindungsreichtum und alltägliches Erfahrungswissen verbinden sich dabei zu etwas gänzlich Neuem.

Diese Struktur ist charakteristisch für die allermeisten fantastischen Erzählungen. Anders als vielleicht zu vermuten wäre, bilden sie in der Regel keine Parallelwelten, die von unserer Erfahrungswirklichkeit getrennt sind. Alice im Wunderland ist dafür ein gutes Beispiel. Die Erzählung erschafft Orte, in denen Wirkliches und Unwirkliches, Erfundenes und Vertrautes einander begegnen und sich auf besondere Weise miteinander verbinden. Es sind, so betrachtet, verzerrte Spiegelungen des Wirklichen, in denen uns Verwandlungen unterschiedlichster Art, Anomalien und vieles mehr begegnen. Sie irritieren unsere Wahrnehmung, gerade weil sie in einer vertrauten Umgebung angesiedelt sind.

Der deutsche Philosoph Marcus Steinweg beschreibt das Unwirkliche wie folgt: „Unwirklich nennen wir nicht, was aus der Wirklichkeit herausfällt. Unwirklich ist, was in sie hineinfällt, um ihr als fremdes Element anzugehören. Zur Wirklichkeit
gehört Unwirklichkeit. Sie versetzt das Subjekt in Angst und Schrecken." (vgl. Evidenzterror, Berlin 2015)

Es lohnt sich, diesen Gedankengang auszubreiten, weil er sich auch auf das Werk von Johann Büsen übertragen lässt. Nicht zufällig heißt seine bislang größte Arbeit Rabbit Hole (2017) – gemeint ist natürlich der zu Anfang erwähnte Kaninchenbau. Es handelt sich um einen Fahrrad-und Fußgängertunnel im Bremer Stadtzentrum, dessen Wände von dem Künstler vollflächig umgestaltet wurden. Drei ganze Monate hat dies in Anspruch genommen. Auf einer Gesamtlänge von rund 200 m entfaltet sich seitdem ein surrealer, überaus vielgestaltiger Bilderkosmos, der unzählige Figuren, Symbole, Bildzitate und Anspielungen versammelt. Der erstaunte Blick findet weder Anfang noch Ende, wandert zwischen den vielen Details ohne festen Halt hin und her. Man fühlt sich an Bildwerke von Pieter Bruegel oder Hieronymus Bosch erinnert und in der Tat bilden beide für Johann Büsen wichtige Bezugsquellen.

Der Kunsttunnel erweitert im großen Maßstab, was viele Arbeiten von Johann Büsen auszeichnet, und was uns auch an der Spiegelwelt von Alice fasziniert. Seine Bilderfindungen sind reich an
bekannten Motiven, die wir wiederzuerkennen glauben, die sich jedoch einem eindeutigen Verstehen konsequent entziehen. Diese Form der Irritation und Überforderung ist durchaus mit dem berühmten Fall in den Kaninchenbau zu vergleichen. Man verliert die Orientierung. Die Koordinaten, mit denen wir gewohnt sind, Bilder zu betrachten, einzuordnen und zu deuten, scheinen uns hier nicht mehr den Weg zu weisen. Wir müssen uns neu verorten und erst einmal zurechtfinden

Eindrücklich belegt dies in der Ausstellung auch das großformatige Werk Höllensturz (2019), ein Motiv, das in der Ikonografie christlicher Kunst von besondere Bedeutung ist und vielfach künstlerisch umgesetzt wurde. Die wohl bekannteste Fassung stammt von Pieter Bruegel, der den gefallenen Engel im Kampf mit vielen schauderhaften Wesen zeigt. Büsens zeitgenössische Interpretation ist ebenfalls von einer überbordenden Fülle. Wir sehen Menschen im freien Fall, Fabelwesen und Chimären, verschiedenste Symbole und grafische Elemente, die sich vielfältig überlagern. Bilder aus unterschiedlichsten Zeiten, Kulturen und Kontexten finden hier auf widersprüchliche Weise zusammen. Und wie im Bremer Kunsttunnel zeichnet sich
auch dieses Bild durch eine All-over-Struktur aus, die kein wirkliches Zentrum kennt und sich in jede Richtung ausbreitet. Oberhalb des Geschehens blickt uns das Auge der Vorsehung an, allerdings in einer eigentümlich abgewandelten Form, umgeben von einem Drachen, wie wir ihn von japanischen Holzschnitten, heutzutage aber auch von modischen Tattoos her kennen. Gerade die traditionelle japanische Kunst ist ein weiterer wichtiger Referenzrahmen für Büsen, gleichermaßen Inspirationsquelle und Materialfundus, den sich der Künstler selbstbewusst und ganz eigenständig anverwandelt.

Wie entstehen diese Bildwerke? Johann Büsen hat in den vergangenen Jahren ein umfangreiches digitales Archiv aufgebaut, das er stets erweitert. Er greift dabei auf unterschiedliche Quellen zurück – Kunstgeschichte und Comic, Medienbilder aus dem Internet, Historisches und Zeitgenössisches, Triviales und Bedeutsames. Ausgehend von einer ersten Idee experimentiert er im freien, assoziativen Spiel mit diversen Form- und Bildelementen, arrangiert sie nach und nach zu einem neuartigen Gefüge. Dabei überarbeitet und verfremdet er sie, gibt ihnen schließlich eine bevorzugt intensive Farbigkeit, die sie miteinander
ästhetisch verbindet. Im fortschreitenden Prozess entstehen so aus vermeintlich disparaten Elementen allmählich Strukturen und Bildkompositionen, die eine festgefügte, ja regelrecht zwingende Form erhalten. Büsens intensive Auseinandersetzung mit kunsthistorischen Positionen zeigt sich nicht zuletzt in der gekonnten Aufteilung der Bildfläche, die an traditionellen Darstellungsweisen orientiert ist und diese doch immer wieder aufzubrechen weiß.

Johann Büsen spricht selbst von digitaler Malerei. Und in der Tat haben viele seiner Bilder eine malerische Qualität, obwohl sie mit Bildbearbeitungsprogrammen am Computer entstehen und drucktechnisch realisiert werden. Er experimentiert dabei mit diversen Möglichkeiten. Bevorzugt nutzt er hochwertige Lambdadrucke auf Alu-Dibond hinter Glas, was eine perfekte, geglättete Oberfläche ermöglicht, äußerst konturenscharf mit eindrücklich farbintensiver Bildwirkung. Vereinzelt nutzt er aber auch Pigmentdruck auf Leinwand, wodurch seine Arbeiten beim ersten Blick eher einer Malerei mit echtem Farbauftrag gleichen. Es gibt zudem Experimente mit Lentikularbildern, die sich beim Umherschreiten im Raum plötzlich verändern, so zum Beispiel beim
kleinformatigen Bild Mother (2019), das ebenfalls ausgestellt ist. Es zeigt Maria mit Jesuskind, das neckisch die Brust entblößt und wieder verhüllt. Wer sich das Bild genauer anschaut, erkennt schnell das hier von der christlichen Bildtradition deutlich abgewichen wird. Die Attribute, die Büsen Maria zuordnet, sind keinesfalls stimmig. Die Jungfrau und Mutter Gottes erscheint nicht wie eine Heiligenfigur, sondern vielmehr wie eine Alchimistin, die selbstständig das Wesen der Welt zu ergründen sucht.

Nebst diesen Beispielen zeigt Johann Büsen in der Ausstellung auch mögliche zukünftige Weiterentwicklungen. So erprobt er neue Verfahrensweisen wie 3D-Druck und Virtual-Reality oder animierte Bildwelten auf Smartphones und digitalen Bilderrahmen. Seiner Ästhetik bleibt er dabei stets treu, adaptiert sie für andere Medien und versucht auf diese Weise neue Möglichkeiten für seine künstlerische Praxis zu erschließen. Sanctuary (2017), ein multimediales Diorama, das wir durch die Virtual-Reality-Brille in Augenschein nehmen können, ist ein eindrückliches Beispiel. Wir stehen zusammen mit dem Künstler im Bild, das sich aus den verschiedensten Elementen zusammensetzt und, wie der Titel
andeutet, in ein von der Pflanzenwelt überwuchertes Heiligtum führt, in dem gegenwärtige, vergangene und womöglich zukünftige Zeiten zusammenfinden – ein immersives Kunsterlebnis, das durch seine zwischenräumliche Wirkung, die Aufmerksamkeit auf besondere Weise bindet und uns wie im Wunderland mit weit aufgerissenen Augen staunen lässt.

Wie ist dieser überaus komplexe Bildkosmos zu deuten? Und wie können wir uns dazu verhalten? Wir leben in einer Welt, die zumindest digital stets alles verfügbar hält und letztlich dazu ermuntert aus Altem Neues zu schaffen, sei es eine Adaption, ein Remix, eine liebevolle Hommage, eine kritische Entgegnung oder Parodie, ein intertextuelles Pastiche oder eine vielteilige Collage. Johann Büsens Werk ist vor diesem Hintergrund zu betrachten. Gerade das Prinzip der Collage ist seiner künstlerischen Praxis eingeschrieben, jedoch unter einem anderen Vorzeichen, als wir dies von vielen historischen Beispielen her kennen. Collagen haben vom Kubismus über dadaistische Praktiken bis hin zum Nouveau Realismus, um nur einige zu nennen, vor allem Brüche und Differenzen sichtbar gemacht. Der ästhetische wie auch inhaltliche Kontrast sollte gewohnte Sehmuster aufbrechen
und so immer auch neue Perspektiven auf die einzelnen Elemente ermöglichen. Bei Johann Büsen werden die unterschiedlichen Bildmotive ästhetisch vereinheitlicht und zum Teil eines eigenständigen und wieder erkennbaren Bildkosmos. Die Widersprüche zeigen sich erst nach und nach, wenn man sich auf die einzelnen Bilder einlässt, wenn man versucht, sie näher zu ergründen.

Sehen wir uns zum Beispiel das Bild Noah 2084 (2019) genauer an. Es handelt sich auch hier um eine digitale Collage, die aus unterschiedlichsten Elementen zusammengefügt wurde. Man spürt die Nähe zu fantastischen Comicwelten von Moebius, aber auch von jüngeren Comic-Autoren wie Charles Burns und Daniel Clowes, zu Science-Fiction-Welten aus Literatur und Spielfilm. Das Bild wirkt zunächst wie ein einheitlich künstlerischer Entwurf, in dem wir uns scheinbar zurechtfinden. Es hat eine verführerische Ästhetik mit ausgesprochen hoher Suggestivkraft. Erst nach und nach machen wir Unstimmigkeiten, merkwürdige Details und Irritationen aus. Der Astronaut mit zwei merkwürdigen Tierwesen in den Händen wird durch den Titel kurzerhand in eine biblische Gestalt umgedeutet. Und die futuristische Landschaft im
Hintergrund entpuppt sich auf dem zweiten Blick als das Eismeer von Caspar David Friedrich, allerdings verwandelt in eine fantastische Zukunftsversion. Erstaunlich ist die Ruhe und Stille, die dem Bild eigen ist. Wir sehen hier keine pessimistisch abgründige Dystopie. Die Titelfigur scheint vielmehr friedlich in sich zu ruhen.

Gleiches gilt auch für die Skulptur Pets (2017). Der kleine 3D-Druck zeigt ein Abbild des Künstlers, der ein zart-rosafarbenes Tier liebevoll in den Händen hält. Es handelt sich nicht um ein gewöhnliches Haustier, wie der Titel andeutet, sondern um ein fremdartiges Traumwesen, das jedoch keinerlei Ängste heraufbeschwört. Das Unwirkliche und Fremde scheint dazuzugehören. Das Andere und Andersartige wird so zum Bestandteil des Eigenen.

Hier deutet sich eine interessante Lesart an, die womöglich grundlegend für Johann Büsens künstlerische Haltung ist. Ihm geht es in seinem Werk nicht um einen wie auch immer gearteten Eskapismus in traumwandlerische Scheinwelten. Er ist daran interessiert, wie wir auf das vermeintlich Fremde blicken, wie wir das Fremde akzeptieren und als ein Bestandteil in unsere Welt einbinden.
Denn hinter den Spiegeln finden sich Abbilder unserer eigenen Vorstellungen und Wünsche, unserer ureigenen Ängste und Fantasien. Das Unwirkliche ist, wie es Marcus Steinweg formuliert, immer auch Bestandteil unsere Wirklichkeit.

Im Werk von Johann Büsen können wir Strategien nachvollziehen, wie man sich dem Unwirklichen nähern kann, wie man sich das Fremde und Unbekannte über kulturelle Grenzen hinweg aneignet und dabei in etwas Neues verwandelt. Denn Kultur ist keine festgeschriebene Entität, in die wir hineingeboren werden. Kultur lebt vom permanenten Wandel, zumindest wenn wir bereit sind das Andere, das Unbewusste und noch Unbekannte in unser Leben und Denken einzubinden.

Ingo Clauß, 2019
Kurator, Weserburg | Museum für moderne Kunst